RegistrierenRegistrieren   LoginLogin   FAQFAQ    SuchenSuchen   
Kurt Tucholsky VISION Interpretation
 
Neue Frage »
Antworten »
    Foren-Übersicht -> Beispielklausuren
Autor Nachricht
Hantz, Rainer



Anmeldungsdatum: 31.10.2012
Beiträge: 10
Wohnort: Kornwestheim

BeitragVerfasst am: 03. Nov 2012 17:08    Titel: Kurt Tucholsky VISION Interpretation Antworten mit Zitat

Tucholsky unternimmt in seiner Erzählung „Vision“ den Versuch, seinen Lesern die Schrecken des Krieges in Erinnerung zu rufen und gleichzeitig vor einem neuen Krieg zu warnen. Für den Ich Erzähler im Text dürfen wir wohl Tucholsky selbst einsetzen.
Im Gegensatz zu den Erwartungen, die der Titel Vision weckt, beginnt der Text ganz konkret: mit der Schilderung einer Alltagsszene in Paris am 28. Juli 1924. Tucholsky ist sich nicht ganz sicher, welchen Bus er nehmen muss, um zu einer bestimmten Straße zu kommen. Also fragt er den Schaffner, und dieser gibt ihm „nett und höflich“ Auskunft. Er bedankt sich. Dies ist die Realität zwischen Deutschen und Franzosen im Jahr 1924 oder doch nicht? „Das wäre also heute“, schreibt Tucholsky, ist das Umgangssprache, dieser eigentlich ungerechtfertigte Irrealis Da wären wir, das hätten wir geschafft, wenn wir tatsächlich da sind oder etwas geschafft haben , oder will er damit auf das Unwirkliche, Zerbrechliche, nur Oberflächliche der Situation hinweisen? Ich weiß es nicht; denkbar ist beides. Auf alle Fälle regt ihn die kleine Szene an, seine Alltagsbegegnung mit einigen Franzosen in Gedanken um einige Jahre zurückzuverlegen, in jene Zeit, die er nie beim Namen nennt, die er immer nur mit „in jenen Jahren“ umschreibt. Als Vision, unwirklich, im Irrealis erlebt er nun, wie sich im Krieg der Busschaffner und der Métroangestellte bemüht hätten, ihn umzubringen, mit dem Bajonett abzustechen, zu erschießen, „vor Angst, aus Pflichtbewusstsein, nach Kommando“. Vielleicht war es von allem ein bisschen einen Vorwurf hören wir nicht heraus: Nicht Mordlust lebt sich da aus; was mit Schaffner und später Milchhändler und Redaktionskollegen so grotesk, absurd, sinnlos wirkt, ist im Krieg Realität, nicht von allen, aber doch von vielen, zu vielen als sozusagen gottgegeben akzeptiert.
Wenn Tucholsky auf seine eigene, aktive Rolle in diesem Gedankenspiel zu sprechen kommt, wird er durch die Verwendung des Indikativs um eine Stufe wirklichkeitsnäher: Er spricht von seiner Pflicht, die er als ehemaliger Soldat durchaus kennt, Tod und Leid zu verbreiten. Und wieder sind es nicht gegnerische Soldaten, Feinde, Angehörige einer anderen Nation, sondern Menschen mit zivilen Berufen, die so das Unmenschliche am Krieg besonders betonen.
Die abschließende doppelte Feststellung „Das war meine Pflicht, das war ihre Pflicht“ beinhaltet keinerlei Vorwurf, weder an seine Mitmenschen von der anderen Seite, noch an sich selbst sie kann nur als Anklage gegen den Krieg gesehen werden, der den Menschen solche Pflichten auferlegt.
Ein ganz deutlicher Vorwurf ist allerdings aus dem nächsten Abschnitt herauszuhören und zwar an beide Seiten: Dass man nämlich „fast gar nicht, ungern, zögernd“ über „diese einzige Lebensfrage“ spricht, ob es je wieder zu einem Krieg zwischen Deutschland und Frankreich komme bzw. wie man ihn verhindern könne. Tucholsky spricht sich nicht gegen das friedliche, freundschaftliche Zusammenleben aus, aber ihm sind Gesten des gutnachbarlichen Miteinanders, Minister und Theaterbesuche zu wenig, wenn sie diese Lebensfrage zweier Nationen, aussparen. Er selbst meldet sich dann als engagierter Pazifist doch zu Wort, z.B. mit vorliegendem Text.
Die Dringlichkeit der aufgeworfenen Frage macht Tucholsky mit einer zweiten, in die Zukunft gerichteten Vision deutlich. Er entwirft ein grauenhaftes Szenario mit Granaten und Giftgas, das in einem wahren Weltuntergangsbild endet, wenn „sich morgen alle: Omnibusschaffner, Métrokontrolleur, Universitätslehrer und Milchhändler, in eine heulende, tobende Masse verwandeln, die nur den einen Wunsch hat, aus den Berufsgenossen der anderen Seite einen stinkenden Brei zu machen, der in den Sandtrichtern verfault...“
Die in der Schlusszeile wiederholte Frage „Morgen wieder? Morgen wieder ?“ macht deutlich, wie ernst es ihm mit dieser an Frankreich und Deutschland gerichteten Frage nach dieser schrecklichen Vision ist, wobei die nationale Einschränkung von der konkreten Szene zu Beginn der Erzählung herrührt. Sinngemäß ergeht der Appell Tucholskys sicher an alle Völker Europas, wenn nicht der Welt.
Nun, seit der Abfassung des vorliegenden Textes sind fast 90 Jahre vergangen; die Geschichte hat aus Tucholskys beunruhigten und beunruhigenden Fragen im Zweiten Weltkrieg schreckliche Realität werden lassen, und auch heute, nachdem auch dieser Krieg überwunden ist und wir alle „wieder friedlich“ sind, scheint zwar ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht mehr möglich, aber auf ein friedliches Miteinander zwischen Ost und West bzw. zwischen Nord und Süd hoffen wir wohl eher, als dass wir fest daran glauben.

rh
Neue Frage »
Antworten »
    Foren-Übersicht -> Beispielklausuren

Verwandte Themen - die Neuesten
 Themen   Antworten   Autor   Aufrufe   Letzter Beitrag 
Keine neuen Beiträge Ist Vision auch eine Dystopie? 2 Salesh 979 21. Nov 2023 09:52
Steffen Bühler Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Kurt Kusenberg: Ein verächtlicher Blick 0 Ja 1500 07. Nov 2023 18:05
Ja Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Interpretation eines Prologes 0 gast123gast 10032 23. Nov 2021 18:13
gast123gast Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Interpretation "Abschied" (Goethe) 0 Gast 19844 23. Jun 2021 17:29
Mora Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Lockere naturnahe Strauchpflanzen - eine Interpretation 2 Heckenpflanzer 14761 27. März 2017 10:31
Heckenpflanzer Letzten Beitrag anzeigen
 

Verwandte Themen - die Größten
 Themen   Antworten   Autor   Aufrufe   Letzter Beitrag 
Keine neuen Beiträge Interpretation/Charakteristik ''Der Richter und sein Henker' 37 Gast 222555 07. Jan 2011 21:18
Xabotis Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Interpretation "Effi Briest" 30 bigosch16 122215 20. Jun 2005 15:20
Gast Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Suche eine Interpretation zu "Der hilflose Knabe" 18 Gast 100712 22. Feb 2010 13:21
Der junge Gast Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Interpretation 15 Bobbi 68109 30. Nov 2010 21:24
T@Helfer Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Interpretation Erich Kästners:Die Entwicklung der Menschheit 14 hey 31270 08. Apr 2012 11:27
tata Letzten Beitrag anzeigen
 

Verwandte Themen - die Beliebtesten
 Themen   Antworten   Autor   Aufrufe   Letzter Beitrag 
Keine neuen Beiträge Interpretation/Charakteristik ''Der Richter und sein Henker' 37 Gast 222555 07. Jan 2011 21:18
Xabotis Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Vergänglichkeit der Schönheit...Hausaufgabe 12 Dev!l 143055 03. März 2011 08:42
Gast11022013 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Interpretation "Effi Briest" 30 bigosch16 122215 20. Jun 2005 15:20
Gast Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Fabel Interpretation: Der Rabe und der Fuchs von Lessing 8 Gast 101270 31. März 2010 17:13
löl Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Suche eine Interpretation zu "Der hilflose Knabe" 18 Gast 100712 22. Feb 2010 13:21
Der junge Gast Letzten Beitrag anzeigen